Offener Brief an die Bundeskanzlerin
Duisburg, 9. Dezember 2020
Menschenrechte für Geflüchtete wahren: Soforthilfe und Evakuierung jetzt!
Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel,
im Morgengrauen des 30. Oktobers wurde das Schutzzentrum „Pipka“ unseres Partners Lesvos Solidarity von maskierten Spezialkräften der griechischen Polizei geräumt. Die Menschen wurden rücksichtslos von den Uniformierten aus den kleinen Häusern und Unter-künften des Camps geholt. Die geschockten und völlig verängstigen Bewohner – darunter 32 Kinder – sollen nun im Lager Kara Tepe untergebracht werden. In dem Übergangslager hat sich die Situation der ca. 7.200 Geflüchteten auch 92 Tage nach dem Brand in Moria nicht verbessert. Schlimmer noch, die Menschen müssen in Sommerzelten frieren, und die hygienischen Bedingungen sind weiterhin katastrophal. Sogar Frauen und Kinder sind mangels Wasserversorgung darauf angewiesen, sich im Meer zu waschen.
An diesem Tag der Menschenrechte prangern wir noch einmal die fortlaufenden Menschenrechtsverletzungen in Flüchtlingslagern an.
Jeder weitere Tag im Lager Kara Tepe verletzt die in der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Grundrechtecharta garantierten Rechte von Geflüchteten und Schutzsuchenden auf unerträgliche Art und Weise – das gilt aus unserer Sicht besonders für die betroffenen Kinder! Für sie setzen wir uns deshalb gemeinsam mit unseren griechischen Partneror-ganisationen ein. Die Aussetzung des Menschenrechts auf Asyl und menschenunwürdige Operationen, wie das vor allem für die Kinder traumatisierende und unverhältnismäßige Räumen des Pikpa-Camps durch die griechische Polizei, verlangen eine deutliche Antwort der EU-Verantwortlichen.
Wir fordern konkret:
1. Humanitäre Hilfe sofort!
Es ist gut, dass die deutsche Bundesregierung Griechenland ihre Unterstützung angeboten hat. Die Hilfe kommt aber bislang nicht bei den Betroffenen an.
Alle Menschen in Kara Tepe brauchen, wie die jungen Mütter und ihre Kinder aus dem Pikpa-Camp, sofort eine Unterbringung in festen Häusern, die Babynahrung, Hygieneartikel und medizinische Versorgung!
2. Sofortiger Beginn der Evakuierung!
Es bedarf einer dauerhaften Lösung für alle Betroffenen – und die heißt Aufnahme in anderen europäischen Ländern. Auf dem griechischen Festland sind bereits Tausende Flüchtlinge obdachlos, eine Verlegung der Überlebenden des Moria-Brandes auf das griechische Fest-land ist deswegen keine Alternative. In Deutschland haben sich Bundesländer und Hun-derte Kommunen zur freiwilligen Aufnahme von Geflüchteten bereit erklärt. Diese huma-nitären Bestrebungen dürfen nicht weiter blockiert werden, sie müssen unterstützt und ausgebaut werden. Der Verweis auf eine europäische Lösung darf nicht verhindern, dass Deutschland seiner Verantwortung gerecht wird.
Die besonders Schutzbedürftigen des ehemaligen Pikpa-Camps und Familien mit Kindern müssen sofort von den griechischen Inseln evakuiert werden!
3. Schutz und Menschenwürde auch für Geflüchtete!
Europäisches Asylsystem menschenwürdig gestalten: Der „New Pact on Migration and Asylum“ der EU setzt auf geschlossene Lager, unter Umständen mit Haftbedingungen. Der Versuch, Schutzsuchende an den Außengrenzen Europas festzuhalten und sie direkt in autoritäre Staaten wie die Türkei zurückzuschicken, obwohl es dort keinen wirksamen Schutz gibt, ist gescheitert.
Die Bundesregierung muss sich für menschenwürdige und rechtsstaatliche Verfahren einsetzen!
Bitte nutzen Sie die letzten Tage der deutschen Ratspräsidentschaft und Ihre Hand-lungsmöglichkeiten als Bundesregierung vor Weihnachten, um den besonders Verletzlichen sofort humanitär durch eine Evakuierung in die Seebrücke-Städte zu helfen!
Hochachtungsvoll
Vorstandsvorsitzende der Kindernothilfe